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Schnecken – ideale Therapie- und Haustiere für Autist*innen?!

Autismus – Was ist das eigentlich? Autismus (ICD-11: 6A02 Autismus-Spektrum-Störung) ist eine hauptsächlich genetisch verursache Behinderung, deren Ursache sich im Gehirn befindet. Wurde früher in verschiedene Subtypen unterschieden, begreift man Autismus heute als Spektrum.



Er kann sich also bei verschiedenen Menschen sehr unterschiedlich zeigen. Betroffene haben häufig qualitative Beeinträchtigungen in den Bereichen der sozialen Interaktion (z.B. kein Blickkontakt, kein soziales Lächeln, Schwierigkeiten Freundschaften zu schließen und halten, Schwierigkeiten Gefühle anderer zu erfassen etc.), Kommunikation (z.B. verzögerte/keine Sprachentwicklung, eingeschränktes Sprachverständnis, Monologe, ungewöhnliche Sprechweise etc.), der Interessen, Beschäftigungen und Verhaltensweisen (z.B. Sammelleidenschaften, große Kenntnisse auf bestimmten Gebieten, Verlangen nach Ritualen, stereotype Bewegungen etc.). Zudem gibt es weitere Begleitsymptome (z.B.: hypo- und hypersensible Wahrnehmungsreaktionen, ungewöhnliches Essverhalten, motorische Ungeschicktheit, Ängste vor unrealistischen Gefahren etc.). Das Spektrum reicht beispielsweise von nonverbalen Menschen bis zu jenen, die viel und gerne reden, von schwerer geistiger Behinderung bis zur Hochbegabung, von Menschen, die sich stark zurückziehen bis zu jenen, die unternehmungslustig sind etc. Viele Symptome treten nicht bei allen Autist*innen auf, können unterschiedlich gut überspielt werden (Masking), sind unterschiedlich stark ausgeprägt.


„[…] sie kotzen mir nicht auf den Bettvorleger und betteln weder nach Futter noch stören sie mich beim Stricken. 😂“ (Trina)


Ich habe mich in der Community umgehört und tolle Antworten von Autist*innen und ihren Eltern bekommen. Natürlich ist das Zitat oben mit einem Augenzwinkern (RW) zu verstehen, trifft die Realität aber ganz gut, was vor allem Katzenbesitzer*innen nachfühlen können. Trina hat mir aber noch mehr erzählt:


„Ich fand Schnecken und Rollasseln schon als Kind toll. Meine Mutter nahm mich immer in die Natur mit und zeigte mir allerlei lustige Krabbeltiere. Ich fand an Schnecken die Farben und Strukturen der Häuser super und wenn ich ein unbewohntes Schneckenahaus fand, durfte ich es auch mit nach Hause nehmen. Mir gefiel damals schon, dass sich Schnecken zurückziehen können in dieses harte Haus. Bei Asseln war‘s die Fähigkeit, sich in einen Panzer zu rollen. Du kannst dir ja denken was mein drittes Lieblingstier war. 😂“


Ihr hättet doch auch sicher Schildkröte geantwortet, oder? Ich hab das jedenfalls und lag daneben. Gemeint sind Igel. Aber wir schweifen ab…


„In erster Linie ist das wohl mein inneres Kind, was sich jede Schnecke auf die Hand gesetzt hat. Andererseits sind es genügsame und entschleunigte Tiere. […] Bei mir waren es auch von Anfang an die Häuser. Egal welche Schnecke, die Häuser sind immer toll.“


Autist*innen nehmen unsere Umwelt anders wahr als viele andere Menschen. Sie fühlen intensiver oder weniger intensiv, fühlen sich durch andere Sachen gestört und können Eindrücke oft nicht filtern. Und so kann es sein, dass das Betasten von Schneckenhäuschen oder das Beobachten der Schleimspuren besonders viel Freude macht – oder auch genau andersrum. Als langsame und berechenbare Tiere sind Schnecken attraktiv für reizempfindliche Menschen. Ebenso sind sie meist geräuschlos und wenn das Becken zu ist und nicht gerade das Futter gammelt, auch recht geruchsneutral.


„Ich bin Mama eines diagnostizierten frühkindlichen Autisten (knapp vier Jahre alt). Mein Sohn ist sehr fasziniert von Tieren im Allgemeinen. Schnecken sind deshalb tolle Therapeuten, da sie ruhig und langsam sind, daher nicht zu reizintensiv, eher berechenbare Bewegungen machen und von der Haptik her auch super interessant sind. Unser Sohn fasst allerdings nur die Gehäuse an (zum Streicheln [Smiley mit Hand vorm Mund]). Er beobachtet die Terras gerne und hilft beim Füttern und Sprühen.“ (Bettina)


Da ich mich in der Schnecken-Community umgehört habe, werden wir hier nur die Stimmen der Schneckenfans hören. Hier sind wir aber auch an einem wichtigen Punkt: Alle Menschen sind anders und haben darum auch verschiedene Interessen. Kein Tier der Welt hilft einem Menschen, der sich nicht für dieses Tier begeistern kann. Schnecken können also wunderbare kleine Helfer*innen sein, aber nicht in jedem Fall. Bei kleinen Kindern oder kognitiv eingeschränkten Menschen ist ebenfalls zu beachten, dass die Versorgung der Schnecken zu jeder Zeit sichergestellt sein muss. Das Gleiche gilt für Einrichtungen. Wer versorgt die Tiere in den Ferien? Wer übernimmt sie falls die Einrichtung schließt oder die Haltung untersagt wird? Das Wohl der Tiere sollte stets mit im Zentrum aller Überlegungen stehen.

Schnecken sind keine bindungsorientieren Wesen. Sie leben zwar in Gruppen, pflegen aber keine Beziehungen. Auch wenn sie ihren Menschen im Laufe der Zeit als ungefährlich wahrnehmen, haben sie kein Bedürfnis nach dessen Aufmerksamkeit. War der Tag anstrengend, lässt sich ihre Versorgung meist problemlos auf den nächsten oder übernächsten verschieben oder im Schnelldurchlauf abhaken. Braucht man eine Auszeit, kann man sich stundenlang vor das Becken setzen und sie beobachten. Braucht man die Auszeit in anderer Form ist das auch okay.

Die Schnecken-Community trifft sich vor allem online, was u.a. für Autist*innen oft barriereärmer ist. Augenkontakt, spontane Antworten, Gestik und Mimik lesen und nutzen – all das kann Schwierigkeiten bereiten und fällt online weg. Man kann auch gänzlich auf den Austausch verzichten oder nur still mitlesen. Und dann eignen sich Schnecken natürlich noch super als Spezialinteresse. Spezialinteressen sind intensive Interessen von Autist*innen, denen sie mit besonderer Intensivität nachgehen. Das Beschäftigen mit ihnen bereitet große Freunde.


„Meine Kinder sind beide Autisten. Alles, was krabbelt und kriecht fällt in den Bereich des Spezialinteresses meines Großen. Während er sich bei allem anderen kaum mal zwei Minuten fokussieren kann, ist er stundenlang konzentriert, wenn er im Garten Schnecken oder Insekten findet und, anders als sonst, ist er dabei absolut entspannt. […] (Daniela)


Aber nicht nur die Schnecken selbst, sondern auch übergeordnete Themen wie Wirbellose, Terraristik und Haustiere können Spezialinteressen sein, ebenso wie spezifischere Felder beispielsweise der Aufbau einer Schnecke, spezielle Arten oder Schneckenhäuschen.


„[…] ich habe die gekauft aus Interesse. Ich wollte schon lange welche, sie haben mich angezogen und [das] Beste ist sie zu „studieren“, alles zu lesen. Was mich fasziniert ist, dass ich mein Interesse an Naturheilmedizin bei ihnen anwenden kann mit Tees z.B., ihr Verhalten zu beobachten und einordnen zu können. Es geht mehr um die Faszination als um Entschleunigen, auch wenn ich die Köpfe und die Bewegung echt so niedlich finde, dass ich mich nicht sattsehen kann und man eben auch sieht, ob es ihnen gut geht oder nicht, wie sie fressen, usw. Das Verhalten interessiert mich, die Vielfalt an Arten, Krankheiten, woher es kommt und die Lösungen, das Fressverhalten, Muster. […]“ (Debora)


Viele der genannten Vorteile betreffen natürlich auch andere Menschen mehr oder weniger intensiv. Gerade im Bereich der Neurodivergenz (psychiatrische und neurologische Diagnosen wie Autismus, ADHS, Dyskalkulie, Tourette, Down-Syndrom, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen etc.) gibt es viele Überschneidungen der Symptome und sicher ließe sich dieser Text mit kleinen Abwandlungen auf andere Diagnosen übertragen. Abschließend lässt sich also festhalten, dass Schnecken wunderbare Haus- und Therapietiere für Autist*innen und auch viele andere Menschen sein können, aber nicht müssen. Die individuellen Bedürfnisse und Wünsche des Menschen sowie das Wohl der Tiere sollten stets im Zentrum der Überlegungen stehen.


Ich bedanke mich bei allen, die ihre Überlegungen mit mir geteilt haben und freue mich, dass ihr Teil unserer Community seid. Sollte ich versehentlich etwas falsch wiedergegeben oder interpretiert haben oder ihr fühlt Euch auf andere Weise missverstanden oder unwohl, zögert bitte nicht mich zu kontaktieren.


Dieser Text ist im Rahmen meines Abschlussprojekts der Weiterbildung „Schwerpunkt Autismus – Qualifizierte Weiterbildung für pädagogische und therapeutische Fachkräfte“ des ATZ Mönchengladbach entstanden, meine Informationen stammen aus den Skripten von Katrin Meyer.

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